Nach der Pensionierung erst einmal ein Sabbatical einlegen und danach weiterschauen? Ein Gespräch über Chancen und Herausforderungen der nachberuflichen Lebensphase mit Altersforscher François Höpflinger.

François Höpflinger, wie zufrieden sind Pensionierte in der Schweiz?

Alle Befragungen zeigen, dass die Pensionierten im Durchschnitt zufriedener sind als die Erwerbstätigen. Das hat in erster Linie mit dem Wegfall von Stressfaktoren zu tun. Eine grosse Mehrheit ist wirtschaftlich abgesichert. Es gibt keine Hinweise, dass ein Pensionierungsschock stattfindet, ausser vielleicht bei Managern, die dann keine Sekretärin mehr haben, die alles für sie erledigt. Diese Zufriedenheit hat allerdings nicht nur gute Seiten: Hierzulande ist sie so hoch, dass man nicht mehr realisiert, dass man Kompetenzen verliert.

Von welchen Kompetenzen sprechen Sie?

Die Arbeitswelt hat positive und negative Seiten: Es wird oft gegen den Strich gebürstet. Das kann zwar negativ sein, wirkt sich allerdings auch kompetenzerweiternd aus und fördert die Resilienz. Zudem ist die Arbeit ein alltägliches Strukturelement. Entfällt das, gibt es gewisse Strukturlosigkeiten, die man überwinden muss.

Gibt es noch weitere Herausforderungen, denen Pensionierte in der Schweiz häufig begegnen?

Manche haben zu hohe Erwartungen: Sie wollen das innere Ich suchen und finden dann nichts. Ein weiterer Punkt sind die Finanzen: Wer mehr Zeit hat, hat auch mehr Zeit, Geld auszugeben. Das heisst, die Ausgaben sind tendenziell höher, obwohl das Einkommen meist kleiner ist als zuvor.
 

Ein älterer Mann sitzt an einem Tisch vor einem Laptop und zeigt etwas auf dem Bildschirm. Er lächelt dabei in die Kamera. Der Mann hat graue Haare und trägt eine Brille und einen blauen Pullover.
Alle Befragungen zeigen, dass die Pensionierten im Durchschnitt zufriedener sind als die Erwerbstätigen.

Wie sieht es bei Paaren aus? Ist es ein Klischee, dass sich pensionierte Paare eher in die Haare kriegen?

Hier liegt die Herausforderung darin, dass es immer mehr Paare gibt, bei denen die Partner nicht mehr gleichzeitig pensioniert werden. Bei denen also eine Person wesentlich länger arbeitet als die andere. Das kann privat, aber auch finanziell zu Diskrepanzen in der Lebensplanung führen.

Aber es gibt doch Vorbereitungskurse, um all diesen Herausforderungen entgegenzuwirken?

Bisher konnte wissenschaftlich nicht belegt werden, dass die Vorbereitungskurse eine klare Wirkung haben. Denn es ist so: Viele Leute haben eine stressvolle Arbeit und sind froh, wenn sie pensioniert werden. Die Probleme kommen oft erst zwei, drei Jahre nach der Pensionierung. Es gibt vorbereitende Kurse zur Pensionierung, aber es fehlen die Nachbearbeitungsseminare.

Was meinen Sie damit?

Wer pensioniert wird, muss sich zuerst erholen. Das könnte man sehen wie ein Sabbatical. Nach ein oder zwei Jahren könnte eine nachberufliche Beratung nützlich sein. Das könnte aussehen wie eine Berufsberatung, in der auch neue und alte Interessen berücksichtigt werden. Dafür braucht es allerdings auch passende Bildungsangebote. Es laufen zwar einige Projekte in dieser Richtung, aber sie werden nicht unterstützt. In der Schweiz haben wir noch keine Bildungspolitik für Menschen jenseits der 65 Jahre. Auch keine Stipendien. Das fehlt sicherlich noch.

Stichwort Selbstbestimmung: Ist die Pension nicht auch eine riesige Chance, sich noch einmal neu zu erfinden?

Auf jeden Fall. Viele unterschätzen die vielfältigen Möglichkeiten. Ich höre immer wieder Geschichten von Menschen, die etwas völlig Neues unternehmen: Ein Gerontologe macht jetzt Türkei- und Iranreisen. Ein UBS-Manager ist nun Bergführer. Eine Frau aus dem Bürobereich hat sich nach der Pensionierung zur Privatdetektivin ausbilden lassen. Aber das wollen nicht alle. Manche wollen auch einfach in ihrem Garten wirken. Auch das ist in Ordnung.
 

Ein älterer Mann steht an einem Türrahmen und schaut in die Kamera. Er trägt ein Hemd, darüber einen blauen Pullover.
Ich höre immer wieder Geschichten von Menschen, die etwas völlig Neues unternehmen: Ein Gerontologe macht jetzt Türkei- und Iranreisen. Ein UBS-Manager ist nun Bergführer. Eine Frau aus dem Bürobereich hat sich nach der Pensionierung zur Privatdetektivin ausbilden lassen.

Inwiefern unterscheidet sich die Vorbereitung auf die Pensionierung von der Vorbereitung aufs Alter?

Das sind tatsächlich zwei verschiedene Themen. Die Pensionierung ist ein klar geregelter Abschnitt, da muss man sich in erster Linie anhand der finanziellen Lage orientieren. Die Mehrheit der Pensionierten zählt sich überhaupt nicht zu den Alten. Altern hingegen ist ein Prozess. Die Frage ist, ob man sich überhaupt darauf vorbereiten kann oder ob man sich laufend anpasst, je nach Möglichkeit.

Wie gut geht es den Pensionierten in der Schweiz eigentlich im internationalen Vergleich?

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind sehr viele Pensionierte in der Schweiz finanziell abgesichert, haben gute Wohnverhältnisse und viele fühlen sich subjektiv sehr gesund. Es gibt Länder, die deutlich tiefere Werte zur Lebensqualität im Rentenalter aufweisen.

In vielen Ländern können es sich die Menschen nicht leisten, mit der Arbeit aufzuhören. Beispielsweise in Bulgarien oder Rumänien. Die Lebenszufriedenheit älterer Menschen ist entsprechend tiefer. In der Schweiz, aber auch in unseren Nachbarregionen – Vorarlberg und Süddeutschland – sind viele Senioren und Seniorinnen kreativ-künstlerisch tätig, da gibt es auch eine grosse Nachbarschaftshilfe. Das gibt es nicht in allen Ländern. In der Schweiz haben wir wohl die aktivsten Jungrentner und Jungrentnerinnen neben den Niederlanden und Süddeutschland.

Schauen wir in die Zukunft: Was werden die Herausforderungen sein von Pensionierten in den kommenden Jahrzehnten?

Die Herausforderungen sind eher gesellschaftlich als persönlich. Es wird sich wohl eine Bildungspolitik 65+ entwickeln. Dadurch liessen sich übrigens auch Demenzrisiken minimieren. Zudem muss das Know-how der Pensionierten aktiver in die Arbeitswelt eingebunden werden. Viele Branchen würden gar nicht funktionieren ohne die Mitarbeit von Pensionierten. Oder auch Familienbetriebe.

Sie selbst sind Jahrgang 1948. Sie müssten eigentlich schon länger nicht mehr arbeiten. Warum tun Sie es dennoch?

Als ich 65 Jahre alt wurde, war ich in so vielen Netzwerken und Projekten involviert, dass sich das mit dem Aufhören einfach nicht ergeben hat. Ausserdem habe ich das Privileg, demografisches oder methodisches Wissen zu haben, das nur wenige Fachpersonen haben. Statistische Kenntnisse erlauben mir zum Beispiel, aus der Gesundheitsbefragung 2022 aktuelle Auswertungen darüber zu machen, wie viele ältere Menschen einsam sind, ob sie Stress haben und wieso. Wenn man ein «Wissensmonopol» hat, kann man weitermachen bis 90. Das ist auch bei Restauratoren oder bestimmten Rosenzüchtern so.

Hatten Sie denn wirklich gar keine Lust aufzuhören?

Bei mir war es tatsächlich so, dass sich die Lustfrage gar nicht ergeben hat. Das ist vielleicht eine Ausnahmesituation.

Welche Forschungsfrage im Bereich der Pensionierung würden Sie gerne noch beantworten in Ihrer Karriere?

Die Frage von vorhin beschäftigt mich: Ich würde sehr gerne noch herausfinden, ob Pensionierungsvorbereitungskurse tatsächlich etwas nützen und wie sie gestaltet werden müssen, um eine Wirkung zu haben.
 

Blick über die Schulter eines älteren Mannes. Dieser hält ein Buch in der Hand mit dem Titel «Familienglück – was ist das?».

Der Altersforscher

Prof. Dr. phil. François Höpflinger ist emeritierter Soziologieprofessor der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse, Pflege im Alter, Arbeit in späteren Lebensphasen sowie Wohnen in der zweiten Lebenshälfte. Internet-Studien zum Thema: hoepflinger.com
 

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