Justine Mettraux stellt sich einem der letzten grossen Abenteuer auf dieser Welt: Die Genferin segelt 2024 an der Vendée Globe ganz alleine rund um den Globus.

Langsam rollt das Segelschiff auf dem Anhänger an uns vorbei und durch den Genfer Segelhafen. Schnittige Form, matt-schwarzer Rumpf, elegant – und vor allem riesig. Aber nicht gross genug: Ihr Schiff sei eineinhalb Mal so lang, sagt Justine Mettraux, «knapp 20 Meter», und schaut einen beinahe entschuldigend an.

Justine Mettraux wird im November 2024 zum härtesten Segelrennen der Welt starten. An der Vendée Globe segelt die 37-Jährige auf ihrem Hightech-Schiff, das «für eine Person fast zu gross ist», mutterseelenallein und nonstop rund um den Globus. Wenn das Schiff auf den Foils, den seitlichen Flügeln, beinahe übers Wasser fliegt, erreicht es Geschwindigkeiten von bis zu 60 Kilometern pro Stunde. Mindestens 80 Tage wird Mettraux unterwegs sein, die Route führt sie an die entlegensten und unwirtlichsten Orte der Welt. Sie wird ihre Yacht durch die wüstesten Stürme und durch meterhohe Wellen navigieren und während des Rennens nie mehr als eineinhalb Stunden am Stück schlafen. Ziemlich verrückt.

Justine Mettraux, professionelle Hochseeseglerin: «Selbstbestimmung ist der Versuch, meine Träume zu verwirklichen.»

Was suchen Sie, wenn Sie ganz alleine segeln: das Abenteuer oder das Risiko?
Habe ich nur diese beiden Begriffe zur Auswahl? (lacht) Ich habe mich schon immer zu Abenteuern hingezogen gefühlt. Es reizt mich, Unbekanntes und Neues nicht nur zu entdecken, sondern auch zu erkunden. Abenteuer und Risiko sind immer ein wenig miteinander verbunden. Zu einem Abenteuer gehört Unbehagen ebenso dazu wie das Risiko. Was wiederum bedeutet: Ich muss mich exponieren und meine Komfortzone verlassen.

Wann weicht das Unbehagen der Angst?
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Angst hatte.

Wirklich?
Wirklich. Auf Hochseeregatten gehört Stress dazu, das ist klar, aber nicht Angst. Wenn die Bedingungen hart sind, das Boot schnell und der Wind heftig, dann spürt und weiss man: Jetzt wären Fehler fatal. Das sind die Momente, in denen man besonders auf sich selbst und auf das Boot aufpassen muss. Das ist Stress, aber nicht Angst. Angst hätte ich dann, wenn ich schlecht vorbereitet wäre.

Ist der Stress Freund oder Feind?
Beides. Der Stress ist mein Freund, wenn er mir hilft, aufmerksam zu sein, konzentriert, um die richtigen Dinge gut zu machen. Er wird dann zum Feind, wenn er überhandnimmt. Wenn er mich davon abhält, mich auszuruhen, zu essen oder zu schlafen. Man muss lernen, mit der Anspannung umzugehen, sie sich zunutze zu machen – sie aber auch zur Seite schieben können, um im Moment wieder runterzukommen.

Wie gross ist der mentale Anteil beim Segeln?
Es ist ein integraler Bestandteil. Ich weiss: Während der Vendée Globe segle ich lange allein unter harten Bedingungen und mit vielen unvorhergesehenen Ereignissen. Man muss also versuchen, sich im Kopf gut vorzubereiten.

Lachende Frau

Justine Mettraux ist in der Nähe von Genf aufgewachsen. Sie lebt und arbeitet heute in Lorient in der Bretagne. Die 37-Jährige ist Mitglied bei der Societé Nautique de Genève, dem Club der Alinghi. Ihre vier Geschwister sind alle ebenfalls professionelle Segler. Das ist eher überraschend: Mettraux’ Eltern sind vom Land an den Genfersee gezogen und haben erst dort das Segeln als Hobby entdeckt. Mettraux verfolgt ihr eigenes Segelprojekt für das Segelrennen Vendée Globe 2024 und segelt daneben in verschiedenen Teams.
www.justine-mettraux.com

Was heisst es für Sie, selbstbestimmt zu sein?
Mir ist es wichtig, darüber im Klaren zu sein, was ich im Leben tun will, welche Ziele ich erreichen will und wie. Dass ich meine eigenen Prioritäten setzen kann. Sei es bei der Arbeit, im Privatleben oder in der Freizeit. Selbstbestimmung ist der Versuch, meine Träume zu verwirklichen.

Es gibt ja kaum einen Ort, an dem Sie selbstbestimmter sind als auf dem Schiff: Sie entscheiden alles.
Das stimmt. Andererseits bin ich beim Segeln total fremdbestimmt. Vom Wetter, vom Wind, von den Hindernissen und den Herausforderungen, denen ich auf dem Weg begegne. Und dann ist da noch das Zögern: Selbstbestimmung heisst auch, Entscheidungen zu treffen. Das ist an Bord oft schwierig, manchmal sogar unmöglich. Man muss warten, bis man genug Grundlagen hat, um zu entscheiden.

Wie wichtig ist Geld, um selbstbestimmt leben zu können?
Um meine Projekte zu realisieren, bin ich auf Geld angewiesen. Die Finanzierung ist für eine Kampagne wie die Vendée Globe ein Schlüsselfaktor. Um das Boot zu kaufen, um die Löhne der Teammitglieder zu bezahlen, um den Traum verwirklichen zu können.

Es gibt viele harte Rennen – weshalb wollen Sie ausgerechnet das härteste machen?
Ich sehe die Vendée Globe als eine Art Höhepunkt in meiner Karriere als Seglerin. Es ist das grösste Rennen, das man im Hochseesegeln allein bestreiten kann, das reizt mich ungemein. Natürlich stimmt es, dass die Südsee zu den einsamsten und unwirtlichsten Orten der Welt gehört. Aber das ist Teil des Reizes, des Abenteuers.

Wie schaffen Sie es, sich zu motivieren, wenn Sie am Limit laufen?
In komplizierten Situationen erinnere ich mich daran, was mein Job ist: Die Route halten, das Boot gut laufen lassen und auf mich achten. Ich konzentriere mich auf kleine, konkrete Dinge, um die Sache in Gang zu halten oder um sie wieder in Schwung zu bringen.

Lachende Frau
Für Frauen ist alles ein bisschen komplizierter – nicht nur im Segeln.

Gibt es auch Momente, in denen Sie das Rennen geniessen können?
Immer wieder. Man ist sehr mit dem Rennen beschäftigt, die Bedingungen sind sehr hart … und von einem Moment auf den anderen ist es plötzlich ruhig und man kann es geniessen. Die Sternenhimmel in der Nacht sind überwältigend, nirgends erlebt man gewaltigere Sonnenuntergänge als mitten auf dem Meer.

Segeln Frauen anders als Männer?
Wir segeln sicher ein bisschen anders, weil uns die Manöver noch ein bisschen mehr Zeit und Energie kosten als die Männer. Wir müssen vorausschauender fahren, etwas mehr antizipieren. In vielen Situationen kann das auch ein Vorteil sein. Mehr als vom Geschlecht hängt es von der Person ab: Jede und jeder hat seine eigene Art zu navigieren, die mit der Persönlichkeit und der Erfahrung zu tun hat.

Sehen Sie sich mit Vorurteilen konfrontiert?
Ja. Ich habe den Eindruck, dass sich Seglerinnen in unserem Umfeld härter bewähren müssen. Wir werden weniger ernst genommen. Wir müssen uns beweisen, bevor wir respektiert werden. Für Frauen ist alles ein bisschen komplizierter – nicht nur im Segeln.

Kämpfen Sie dagegen?
Ich segle nicht, weil ich damit ein Zeichen für die Sache der Frauen setzen will. Aber ich betrachte mich als Feministin: Es ist wichtig, dass Männer und Frauen heute die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben. Wenn ich mit meinen Projekten diese Botschaft aussenden kann, dann freut mich das. Wenn ich dadurch junge Frauen dazu bringe, sich für diesen Sport zu entscheiden, der immer noch sehr männlich geprägt ist, dann ist das natürlich noch besser.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie wieder an Land sind?
Auf ein bisschen Komfort. Eine warme Dusche nach einer langen Zeit auf dem Meer. Und natürlich darauf, mein Team, meine Freundinnen und Freunde und meine Familie wiederzusehen.

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